von Manuel Opitz
5 Min.
Zehntausende chinesische Kommunisten ergriffen 1934 die Flucht vor den Kämpfern der nationalistischen Guomindang, nur ein Bruchteil überlebte. Dennoch wurde der "Lange Marsch" in der Volksrepublik zum Heldenepos stilisiert – auf dessen Strahlkraft Chinas Führung heute mehr denn je setzt, sagt der Sinologe Felix Wemheuer
GEOEPOCHE: Herr Professor Wemheuer, im Jahr 1934 war China weit davon entfernt, eine globale Supermacht zu sein. Wie können wir uns die Republik in jener Zeit vorstellen?
Prof. Dr. Felix Wemheuer: Als Land mehrerer gleichzeitig stattfindender Kriege und Konflikte. Es gab zwar in Nanjing eine Zentralregierung der nationalistischen Guomindang unter der Führung von Chiang Kaishek. Sie kontrollierte aber nur etwa die Hälfte des chinesischen Territoriums. Bereits 1931 hatte Japan die Mandschurei, den Nordosten des Landes, besetzt. Daneben gab es andauernde bewaffnete Kämpfe zwischen der Zentralregierung und verschiedenen Warlords sowie mit der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Diese hatte in Anlehnung an die Sowjetunion im Südosten Chinas eine sogenannte Chinesische Sowjetrepublik gegründet, den Jiangxi-Sowjet.
Welche Rolle spielte Mao damals in der Kommunistischen Partei?
Mao hatte sich seit Ende der 1920er Jahre als lokaler Guerillaführer hervorgetan und war 1931 Vorsitzender der Chinesischen Sowjetrepublik. Die Führung der Partei dagegen lag zeitweise in den Händen von Zhou Enlai, Bo Gu und dem deutschen Militärberater der Roten Armee, Otto Braun, der von der Kommunistischen Internationale aus der Sowjetunion entsandt worden war. In den folgenden Jahren rangen unter den Kommunisten im Wesentlichen zwei Fraktionen um Macht: moskautreue Kader um Wang Ming, der auch aus der UdSSR zurückkehrte, und solche, die sich – wie Mao – als weitestgehend unabhängig von der Sowjetunion verstanden. Dass sich letztlich ausgerechnet dieser Mann in der Partei durchsetzen würde, war 1934 nicht absehbar.
Wie ging die Guomindang gegen die Kommunisten vor?
Mit brachialer Gewalt. Die Zentralregierung führte grausame Ausrottungsfeldzüge. Im Laufe des Jahres 1934 spitzte sich die Lage für die Kommunisten zu: Das nationalistische Militär kreiste die Sowjetrepublik erfolgreich ein, und die KPCh sah angesichts der feindlichen Übermacht im Oktober 1934 nur noch einen Weg: die Flucht.
Jenes Ereignis, das als "Langer Marsch" in die Geschichte eingehen sollte.
Ja, innerhalb weniger Tage brachen rund 86 000 Menschen der Chinesischen Sowjetrepublik fluchtartig auf. Ihr Ziel war schließlich das Stützpunkt-Gebiet in Shaanxi in Nordchina. Um dort hinzugelangen, mussten die Kommunisten mehrere Belagerungsringe der Guomindang durchbrechen, Armeen der Nationalregierung und den ihnen unterstellten Warlords ausweichen, Flüsse passieren und Gebirgsketten mit bis zu 4000 Meter hohen Bergen überwinden. Erst nach 370 Tagen auf der Flucht erreichten sie 1935 ihr Ziel in Nordchina. Dabei legten sie nach eigenen Angaben eine Strecke von 12 500 Kilometern zurück, was allerdings nur als grobe Einschätzung gilt.
von GEO EPOCHE
Vor 75 Jahren, am 1. Oktober 1949, ruft Mao Zedong vor 300.000 Menschen die Volksrepublik China aus. Er ist nun Staats-, Partei- und Armeechef. Seinen Weg zur Macht ebnete sich der Bauernsohn mitMord, Raub und Erpressung
Wobei der Großteil der geflüchteten Kommunisten niemals das Ziel erreichte.
80 bis 90 Prozent kamen um, nur 8000 bis 9000 Menschen überlebten den Marsch. Sie starben nicht nur in Gefechten, sondern auch an Erschöpfung, Hunger, Kälte, Krankheiten.
War das Unternehmen nicht von vornherein ein Himmelfahrtskommando?
Der Lange Marsch war eine Verzweiflungstat. Für die Kommunisten ging es ums nackte Überleben. Ein Verbleib im Jiangxi-Sowjet hätte ihre völlige Vernichtung bedeutet. Zehntausende Kommunisten, darunter Frauen, Kinder, Verwundete, Kranke, Alte, mussten 1934 in der Sowjetrepublik zurückbleiben. Die nationalistische Armee hat viele von ihnen gefoltert und massakriert.
Wie ist den Kommunisten angesichts der Übermacht der Guomindang überhaupt die Flucht gelungen?
Für die Guomindang waren die Kommunisten nur ein Problem von vielen. Sie haben nie ihre gesamten Streitkräfte auf die Vernichtungsfeldzüge gegen die Kommunisten konzentriert. Hinzu kam, dass verschiedene Warlords in China formal zwar der Zentralregierung unterstellt waren, aber kein Interesse daran hatten, ihre eigenen Truppen dafür zu opfern, die Kommunisten zu stellen. Nach dem Langen Marsch halfen äußere Umstände: 1937 brach der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg aus. Angesichts dieser Bedrohung bildeten die Guomindang und die Kommunisten eine patriotische Einheitsfront und kämpften bis 1945 gegen die japanische Armee.
Wie hat Mao es geschafft, im Laufe des Langen Marsches zur Führungsfigur der Kommunistischen Partei aufzusteigen?
Die Erzählung, dass Mao bereits während oder direkt nach dem Langen Marsch plötzlich der unumstrittene Anführer der KPCh gewesen sei, ist ein Mythos. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass er sich erst 1938/39 endgültig in der Parteiführung durchgesetzt hat, und zwar mit dem Segen Josef Stalins aus Moskau. 1943 wurde er schließlich auch formal an die Spitze der Partei gewählt. Richtig ist, dass Mao seine Position im Laufe des Marsches festigen und Weichen für die Zukunft stellen konnte.
Aber wie? Was hat ihn von den anderen Führungspersonen der Partei unterschieden?
Mao war ein Stratege. Ihn hat vor allem seine defensive und mobile Kriegsführung ausgezeichnet. Er hat seine Truppen ständig in Bewegung gehalten, und er hat es geschafft, feindliche Stellungen zu umgehen und letztlich die Kommunisten tatsächlich nach Norden zu führen. Mao und die KPCh stellten damals nicht den Kommunismus in den Vordergrund, sondern Patriotismus und Agrarreform. Sie konnten besonders unter der armen Landbevölkerung Anhänger gewinnen. Später kam für Mao eine Portion Glück dazu: 1937 wurden sein interner Gegenspieler Zhang Guotao und dessen Armeeeinheit bei einem Feldzug von der Guomindang vernichtend geschlagen und war damit als Konkurrent innerhalb der Partei ausgeschaltet.
In welcher Situation befand sich die Kommunistische Partei nach dem Ende des Langen Marsches? Vom Aufstieg an die Macht in China war sie doch immer noch weit entfernt.
Absolut. Die Überlebenden der Parteiführung hatten zwar ihren Stützpunkt im Norden erreicht, mussten aber die nächsten zehn Jahre in dieser armen und ländlichen Region ausharren und lebten sogar in Höhlen. Auch nach dem Langen Marsch blieb völlig unklar, welche Perspektiven die Kommunisten in China überhaupt haben. Gerade dieser trotzige Überlebenskampf in der Einöde hat zu Maos Mythos beigetragen. Als die Kämpfe zwischen Nationalisten und Kommunisten 1946 nach dem Ende des Chinesisch-Japanischen Krieges neu aufflammten, gewannen Maos Truppen schließlich die Oberhand. 1949 rief er die Volksrepublik China aus.
Welche Rolle spielt der Lange Marsch für die Geschichtsschreibung im heutigen China?
In der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung ist der Lange Marsch ein zentrales Heldenepos. Dieser Erzählung nach haben sich 1934/35 Zehntausende "Märtyrer", so der offizielle Begriff, für die Idee des Kommunismus und der Nation geopfert. Dieser "Befreiungskampf" habe damit überhaupt erst das Abschütteln der japanischen Fremdherrschaft sowie die Gründung der Volksrepublik möglich gemacht, also die Voraussetzungen für das heutige China geschaffen. Große Filmproduktionen, TV-Serien und Comics halten die Erinnerungen an den Marsch am Leben. Reiseanbieter organisieren Fahrten zu Schauplätzen der historischen Route. 2021 hat die Regierung das neue Standardwerk "Kurze Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas" herausgegeben, in dem der Lange Marsch weiterhin glorifiziert wird.
Wie nah am historischen Kern sind die heutigen Darstellungen in China?
Mein Eindruck ist, dass die offiziellen chinesischen Darstellungen einseitig sind. Das heißt, vermeintliche Heldentaten der kommunistischen Soldaten werden überhöht, Schlachten glorifiziert und das Leid, das der Marsch für alle beteiligten Menschen gebracht hat, als notwendiger Opfergang für die Sache dargestellt. Die Machtkämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei werden so beschrieben, dass Mao damals immer die richtige Strategie vertreten hat. Die brutalen Säuberungswellen gegen seine parteiinternen Konkurrenten werden in chinesischen Fachpublikationen zwar erwähnt, haben den Mythos in der Öffentlichkeit aber nicht zerstört.
Warum ist es der chinesischen Führung so wichtig, den Langen Marsch zum Heldenepos zu stilisieren?
Die Frage ist ja: Warum hat die Kommunistische Partei das Recht, China zu regieren? Die Antwort liegt, in den Augen von Parteianhängern, auch in der Geschichte. Wenn man den offiziellen Darstellungen folgt, dann war es allein die Kommunistische Partei, die das am Boden liegende, von ausländischen Mächten gedemütigte China befreien, eine Wiedergeburt als neue Nation und den Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht einleiten konnte. Die Kommunistische Partei braucht die Geschichte also, um sich zu legitimieren, besonders in Zeiten, in denen das Wirtschaftswachstum abnimmt und eine deutliche Wohlstandssteigerung in jeder Generation heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist wie in den ersten 40 Jahren nach der "Reform und Öffnung" von 1978.
Erschienen in GEO EPOCHE Panorama Nr. 24 (2024)
- China
- Geschichte
- 20. Jahrhundert